BGH fragt EuGH: Ist das Muster-Widerrufsformular wirklich wichtig?

Das Muster-Widerrufsformular sorgt bei Fernabsatzverträgen immer wieder zu Streit. Das Gesetz sagt sehr deutlich: Wird das Formular nicht bereitgestellt, beträgt die Widerrufsfrist ein Jahr und 14 Tage. Aber ist das wirklich so? Der Bundesgerichtshof (BGH) ist sich da unsicher und fragt den EuGH. Wir erklären die Details.

Der BGH (Beschl. v. 22.10.2025, I ZR 192/24) hat dem EuGH zwei entscheidende Fragen zur Auslegung der Verbraucherrechte-Richtlinie vorgelegt, in der die Grundlagen zum Widerrufsrecht geregelt sind.

Es geht um die Voraussetzungen des Beginns der Widerrufsfrist und um die Frage, ob das Widerrufsrecht bei Verträgen über die Erbringung von Dienstleistungen trotz vollständiger Vertragserfüllung fortbesteht.

Ausgangspunkt: Streit um Maklerprovision und fehlendes Muster-Widerrufsformular

Ausgangspunkt ist ein typischer Fall aus der Praxis. Ein Verbraucher hatte über die Webseite einer Maklerin einen Maklervertrag im Fernabsatz geschlossen. Er bestätigte online den Erhalt der Widerrufsbelehrung und erhielt im Anschluss ein Exposé. Später kaufte er die Immobilie und zahlte sogar die vereinbarte Marklerprovision. Erst Monate später erklärte er den Widerruf und verlangte Rückzahlung der Marklerprovision.

Der Verbraucher erklärte außerdem ausdrücklich, dass er den Beginn der Ausführung der beauftragten Dienstleistung vor Ende der Widerrufsfrist verlange und Kenntnis davon habe, dass sein Widerrufsrecht vor Ablauf der Widerrufsfrist erlösche, wenn die Dienstleistung vollständig erbracht und mit ihrer Ausführung erst nach Erteilung der ausdrücklichen Zustimmung begonnen worden sei.

Die Besonderheit: Es war unklar, ob die Maklerin dem Verbraucher tatsächlich das gesetzlich vorgesehene Muster-Widerrufsformular übermittelt hatte. Der Verbraucher berief sich auf die fehlende Bereitstellung und argumentierte, die Widerrufsfrist habe nie zu laufen begonnen. Das LG Mannheim und das OLG Karlsruhe wiesen die Klage des Verbrauchers ab, dann ging es zum BGH. Dieser setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor.

Erste Vorlagefrage: Beginn der Widerrufsfrist ohne Muster-Widerrufsformular?

Die erste Frage, die der BGH stellte, lautet wie folgt:

„Beginnt die vierzehntägige Widerrufsfrist des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/83/EU zu laufen, wenn der Unternehmer dem Verbraucher das Muster-Widerrufsformular nicht zur Verfügung gestellt hat?“

Die zentrale Frage in dem Verfahren ist also, ob die 14-tägige Widerrufsfrist zu laufen beginnt, wenn der Unternehmer dem Verbraucher das Muster-Widerrufsformular nicht zur Verfügung stellt.

Nach deutschem Recht (§ 356 Abs. 3 BGB, Art. 246a § 1 EGBGB) beginnt die Frist erst, wenn der Unternehmer den Verbraucher ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht informiert hat – dazu gehört ausdrücklich auch die Bereitstellung des Formulars.

Der BGH verweist auf Art. 6 Abs. 1 Buchst. h und Art. 10 der Richtlinie 2011/83/EU, wonach der Unternehmer den Verbraucher vor Vertragsschluss über die Bedingungen, Fristen und Verfahren für die Ausübung des Widerrufsrechts informieren und das Muster-Widerrufsformular bereitstellen muss. Fraglich für den BGH ist, ob die fehlende Bereitstellung zwingend dazu führt, dass die Frist nicht zu laufen beginnt, oder ob dies nur dann gilt, wenn der Verbraucher tatsächlich in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt war.

Vergleich mit der Verbraucherkreditrichtlinie

Der BGH zeigt sich tendenziell offen für eine flexiblere Auslegung, insbesondere der I. Zivilsenat argumentiert traditionell auch eher unternehmer- als verbraucherfreundlich: Es könne genügen, wenn der Verbraucher die Belehrung verstanden hat und faktisch in der Lage war, sein Widerrufsrecht auszuüben – selbst ohne das Formular. Das Muster-Widerrufsformular diene primär der Vereinfachung, nicht der Aufklärung, so eine Überlegung des Gerichts.

Der Senat verweist insoweit auf die EuGH-Rechtsprechung zur Verbraucherkreditrichtlinie, wonach formale Belehrungsmängel nur dann den Fristbeginn hindern, wenn sie geeignet sind, den Verbraucher irrezuführen oder seine Entscheidung zu beeinflussen.

Sollte der EuGH diese Linie auf die Verbraucherrechterichtlinie übertragen, würde sich der derzeitige Verbraucherschutzstandard im Online-Handel erheblich verändern: Formale Fehler bei der Übermittlung des Musterformulars könnten künftig (fast) folgenlos bleiben, sofern die eigentliche Belehrung inhaltlich korrekt war.

Zweite Vorlagefrage: Fortbestehen des Widerrufsrechts trotz vollständiger Vertragserfüllung?

Die zweite Frage des BGH betrifft die zeitliche Begrenzung des Widerrufsrechts bei Dienstleistungsverträgen. Nach deutschem Verständnis kann der Verbraucher einen Fernabsatzvertrag grundsätzlich auch nach Vertragserfüllung widerrufen, sofern die Widerrufsfrist noch läuft. Das OLG Karlsruhe hatte dagegen argumentiert, das Widerrufsrecht entfalle automatisch, wenn beide Parteien den Vertrag vollständig erfüllt haben – unabhängig von Belehrungsmängeln.

Der BGH stellt diese Auffassung ausdrücklich in Frage. Er verweist auf Art. 9 und Art. 16 der Richtlinie 2011/83/EU, wonach der Verlust des Widerrufsrechts nur unter engen Voraussetzungen eintritt: Der Verbraucher muss vor Beginn der Leistung ausdrücklich zugestimmt und bestätigt haben, dass er sein Widerrufsrecht mit vollständiger Erbringung der Dienstleistung verliert. Diese Regelung setzt voraus, dass der Verbraucher ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht informiert wurde – was gerade nicht der Fall sein könnte, wenn das Muster-Widerrufsformular fehlt.

Der BGH fragt daher:

„Ergibt sich aus Bestimmungen der Richtlinie 2011/83/EU, dass das Widerrufsrecht des Verbrauchers nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie fortbesteht, obwohl sowohl er als auch der Unternehmer einen zwischen ihnen geschlossenen Fernabsatzvertrag vollständig erfüllt haben? Gilt dies gegebenenfalls jedenfalls dann, wenn der Unternehmer dem Verbraucher das Muster-Widerrufsformular nicht zur Verfügung gestellt hat?“

In der BMW-Bank-Entscheidung hatte der EuGH für Verbraucherkreditverträge angenommen, dass das Widerrufsrecht bei beiderseitiger Erfüllung erlischt. Der BGH neigt jedoch zu einer abweichenden Lösung für Fernabsatzverträge, weil die Richtlinie 2011/83/EU – anders als die Verbraucherkreditrichtlinie – ausdrücklich Regelungen zur Rückabwicklung auch nach Vertragserfüllung (etwa bei Kaufverträgen) enthält.

Würde der EuGH dem BGH folgen, könnte ein Verbraucher selbst nach vollständiger Leistungserbringung und Zahlung noch widerrufen, sofern er nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht informiert wurde. Das wäre keine Neuheit. Denn wenn der Unternehmer den Verbraucher gar nicht über das Widerrufsrecht belehrt, kann der Verbraucher auch nach vollständiger Erbringung der Dienstleistung den Vertrag widerrufen und muss entweder nichts zahlen oder erhält sein gezahltes Geld zurück.

Bedeutung des Verfahrens für die Praxis

Muster-Widerrufsformular

Erneut zeigt sich, dass zentrale Fragen des Widerrufsrechtes in der Rechtsprechung noch nicht geklärt sind. Am 13. Juni 2014 trat das „neue“ Verbraucherrecht in Kraft. Es scheint sich zu bewahrheiten, dass dieser Freitag, der 13. kein gutes Omen für die Wirtschaft war.

Die erste Vorlagefrage des BGH betrifft letztlich alle im Fernabsatz und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträge, bei denen ein Widerrufsrecht besteht. Nach bisherigem Verständnis beträgt die Widerrufsfrist 1 Jahr und 14 Tage, wenn das Muster-Widerrufsformular nicht vom Unternehmer bereitgestellt wird.

Der BGH zweifelt nun an diesem Verständnis.

In der Sache ist dem BGH zuzustimmen. Das Muster-Widerrufsformular ist nutzlos. Die Verbraucher nutzen dies in der Praxis nicht, Unternehmen sind längst viel kundenfreundlicher. Weder Verbraucher noch Unternehmer wollen etwas mit einem bürokratischem Formular beim Widerruf zu tun haben.

Der Wortlaut des Gesetzes spricht aber gegen den praktischen Ansatz des BGH. Und der EuGH ist bekannt dafür, dass er bei einem relativ eindeutigem Wortlaut auch daran festhält. Außerdem wird das Muster-Widerrufsformular in der Politik für einen großen Fortschritt in Sachen Verbraucherschutz gehalten.

Daher ist unsere Prognose (auch wenn das Gegenteil unser Wunsch ist): Der EuGH wird an der Notwendigkeit des Muster-Widerrufsformulars festhalten.

Erlöschen des Widerrufsrechtes bei Dienstleistungen

Die zweite Frage ist da schon etwas kniffliger. Wenn das Widerrufsrecht noch läuft und der Verbraucher verlangt hat, dass mit der Ausführung sofort begonnen werden soll und gleichzeitig bestätigt, dass bei vollständiger Erfüllung sein Widerrufsrecht erlischt, sollte er dann noch ein Widerrufsrecht haben, nur weil das Muster-Widerrufsformular nicht bei der Belehrung dabei war?

Das Gerechtigkeitsempfinden sagt bei vielen: „Nein, auf keinen Fall!“

Aber auch hier ist wohl davon auszugehen, dass der EuGH diesen Weg nicht mitgehen wird. Es wäre natürlich wünschenswert, wenn der EuGH dem Widerrufsjoker bei Dienstleistungsverträgen einen Riegel vorschiebt. Allerdings hat der Gesetzgeber einseitige Rechtsfolgen zu Lasten der Unternehmer bei Belehrungsmängeln ausdrücklich vorgesehen. In der Vergangenheit ist der EuGH diesen Vorgaben immer gefolgt.

Fazit

Es darf gehofft werden, dass der EuGH die erneute Chance nutzt, das Widerrufsrecht insgesamt etwas gerechter auszugestalten, auch wenn diese Hoffnung gering sein dürfte. Bis zu einer Entscheidung des EuGH dürften einige Monate ins Land gehen.

Die korrekte Belehrung über das Widerrufsrecht ist nicht trivial, sondern äußerst komplex. Und im nächsten Jahr kommen weitere Herausforderungen mit dem Widerrufsbutton auf die Unternehmen zu.

Übrigens: Unabhängig von der Frage, ob sich die Widerrufsfrist verlängert: Fehlt das Muster-Widerrufsformular, kann das von Mitbewerbern und Verbänden abgemahnt werden.

Gerne unterstützen wir Sie bei der Umsetzung – und in Bezug auf die EuGH-Entscheidung halten wir Sie selbstverständlich auf dem Laufenden. (mr)

Martin Rätze